Zu einer der wichtigsten Fragen reflektierender Menschen, die sich jemals für Biologie oder Medizin interessiert haben, gehört die folgende: Wenn z.B. Antibiotika die Anzahl mutierender, immuner Bakterien erhöhen, ist es dann überhaut sinnvoll, diese einzusetzen?
Je mehr Antibiotika wir entdecken und verwenden, umso schneller werden auch die Bakterien immun. Machen wir damit nicht irgendwie den jetzigen Menschen einen Gefallen auf Kosten der zukünftigen Generationen?

Als ich auf das Geschwister-Scholl-Gymnasium ging, hat dieses Thema einmal eine Diskussion im Biologie-Unterricht angeregt und wir haben diese mit der Konklusion beendet, dass solche Medikamente auf lange Sicht für die Individuen gut sind, nicht jedoch für die Spezies, da diese den „Selektionsdruck“ erhöhen und somit zu immuneren Bakterien führen.
Das Problem ist, dass dies für die ganze Medizin gelten kann. Zum Beispiel führt die Erfindung von Brillen dazu, dass Sehschwächen kein Problem fürs Überleben und die Weitergabe von Genen darstellen. Sollen wir also etwa aufhören damit? „Natürlich nicht!“ wäre heute die intuitive Antwort darauf – da wir damit auch Menschen retten und deren Wohl genauso wichtig ist wie das der Spezies. Das distanziert uns schließlich von dem sogenannten „Sozialdarwinismus“, der sich im 19. und 20 Jahrhundert verbreitet hat.

Allerdings habe ich während des ersten Semesters an der Uni Göttingen festgestellt, dass diese verbreitete Meinung, bei der man schnell den Sinn der Medizin infrage stellen könnte, unschlüssig ist! Es gibt noch mehr Argumente als das oben genannte. Das Lustige ist, dass mir dies nicht direkt beigebracht wurde, sondern im Gegenteil: Eine Dozentin in einem Biologie-Seminar hat tatsächlich genau die vorhin erwähnte Meinung geäußert. Aber ihre Ausdrucksweise hat mich auf den Denkfehler hingewiesen. Das ist eigentlich das Tolle am Studieren: Man lernt nicht nur vom Curriculum, sondern auch von den vielen unterschiedlichen Menschen, denen man begegnet, und den Interaktionen mit ihnen.

Diese Dozentin behauptete, dass Medizin im Allgemeinen für die Evolution eigentlich nicht „gut“ sei. Klar – sagte sie – sie helfe den Menschen und rette sie und wir sollten sie betreiben, allerdings mache sie die Menschheit nebenbei schwächer. Es gebe Studien, die zeigten, dass heutige Frauen durchschnittlich schmalere Becken hätten als früher. Dies liege wahrscheinlich daran, dass Kaiserschnitte ins Spiel gekommen seien. Dies habe nämlich dazu geführt, dass auch Frauen, mit schmalen Becken ihre Gene weitergäben. D.h. aber, dass immer mehr Frauen zu natürlichen Geburten unfähig seien. Medizin führe also dazu, dass unsere Art in Wahrheit schwächer würde. Es gehe also „evolutionär nach hinten“.

Dieser Ausdruck hat mich stark beschäftigt, denn im Philosophie-Unterricht in der Schule haben wir festgestellt, dass Evolution keine Zielrichtung hat. Es gibt kein hinten und vorne! Es bleiben einfach diejenigen Arten, die an deren Umwelt angepasst sind!

Aber haben wir nicht jetzt festgestellt, dass Menschen auf lange Sicht schwieriger Nachfahren werden bekommen können? Wie soll das nicht schlecht sein?

Die Antwort lautet: Die kleinere Breite des Beckens hat – wie jede evolutionäre Veränderung – Vor- und Nachteile, sodass der Wert davon in der Summe Null, aber für die aktuelle Umwelt positiv ist. Ein Beispiel? Landbesiedlung: Ein Landtier kann nicht schwimmen, dafür aber gut auf Land laufen. Beine, Lungen usw. sind also gut fürs Landleben aber schlecht fürs Leben im Meer. Lebt das Tier in einer trockenen Umgebung? Wenn ja, dann ist es doch gut für es, dass es ein Landtier ist. Dasselbe gilt für die Beckengröße! Ein Beweis, dass diese Vorteile hat, ist die Tatsache, dass Männer durchschnittlich kleinere Becken haben als Frauen, und Frauen in einer Umgebung, in der Beckengröße fürs Gebären unbedeutend ist, auch anscheinend auf lange Sicht schmalere Becken bekommen. Es scheint also so zu sein, dass breitere Becken allein fürs Gebären gut sind und dass diese verloren gehen, sobald natürliches Gebären nicht mehr notwendig ist. Was hat das für einen Grund? Das ist natürlich ein Hinweis darauf, dass schmale Becken Vorteile haben!
Breitere Becken sind nämlich funktionell anatomisch betrachtet anfälliger für Brüche. Schmalere Becken machen Menschen also zu besseren Läufern und Männer konnten es sich schon immer „leisten“, schmalere, stabilere Becken zu haben, weil sie nicht gebären müssen. Und jetzt können sich auch Frauen diese Eigenschaft wegen Medizin leisten, bzw. Frauen können trotzdem ohne Probleme Kinder kriegen. Man muss keine Knochenstabilität mehr zugunsten der Gebärfähigkeit aufgeben.

Man mag vielleicht einwenden, dass Geburten dann ohne Medizin schwierig werden; dass wir also damit von medizinischen Eingriffen und künstlicher Technik abhängig werden. Aber das ist für unser aktuelles Leben in Ordnung, weil diese in unserer Umgebung vorhanden sind. Landtiere sind auch davon abhängig geworden, dass es trockenes Land gibt. Man ist immer abhängig von seiner Umgebung! Und unsere Umgebung ist nun eine Zivilisation mit Medizin.

Was also nun evolutionär passieren kann, ist nichts anderes als eine Anpassung an die aktuelle Umwelt, eine langsame Optimierung des Lebens in der jetzigen Situation. Nicht mehr, nicht weniger. Und der Denkfehler bestand darin, dass man sich den Erfolg der Anpassung an eine Umgebung in einer anderen als Bewertung ansah. Es ist genauso wie die Aussage „Kiemen sind schlecht, weil man damit auf dem Land nicht atmen kann“. Na ja, Fische leben aber im Wasser, da sind Kiemen das Richtige.

Aber was, wenn diese Zivilisation zusammenbricht? Das wäre tatsächlich eine Katastrophe, wie sie sonst in der Natur vorkommen kann. Nicht nur unsere, sondern jede Umgebung kann theoretisch zugrunde gehen. Landtiere haben auch immer z.B. die Gefahr einer Überflutung, Fische u.a. die Gefahr von Trockenheit oder starken Veränderungen der Salz-Konzentration. Wir sind nicht anders; wir müssen hoffen und dafür arbeiten, dass unsere passende Umwelt erhalten bleibt. Deswegen ergibt es auch Sinn, sich für gute Klimaziele einzusetzen.

Wir können uns als vernunftbegabte Wesen entscheiden, in welcher Umgebung wir leben wollen: In einer grausamen, wo jeder für sich und hilflos um sein eigenes Überleben bemüht ist, oder in einer Umgebung voller Solidarität, Warmherzigkeit und gegenseitige Hilfeleistung? Klar, die erste ermöglicht es manchmal, im Wald alleine zu leben und oft fast selbstständig Kinder zu gebären (solange man kein Pech hat und „natürlich ausselektiert“ wird), aber in der anderen hat man es nicht nötig und man kann stattdessen sicherer und länger gesund leben!

Und was ist mit Antibiotika und den Mutanten? Ja, es ist ein endloses Rennen! Sowohl Medikamente als auch Krankheitserreger werden sich immer parallel zueinander entwickeln und es geht immer darum, diesen natürlichen Feinden einen (oder lieber mehrere) Schritt(e) voraus zu sein. Dies kann man erreichen, indem man mehr forscht (also indem wir uns schneller entwickeln) und man Antibiotika nur überlegt und sinnvoll einsetzt (also indem wir die Entwicklung der Bakterien verlangsamen).

Medizin ist letztendlich nicht schlecht für die Spezies und dasselbe gilt für jede Art von gegenseitiger Hilfeleistung: Es ist gut, solange man nicht aufhört – also helft euch bitte doch weiter gegenseitig und lebt gesund!

Ein Artikel von Bashar, ehemaliger Schüler